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Die heilende Kraft der Hoffnung

Aktualisiert: 30. Apr. 2020

Die Rolle von Placebos in der Arztpraxis Nicht wenige Ärzte wenden bei ihren Patienten Placebobehandlungen an, von denen nach wissenschaftlichen Kriterien keine Wirkung zu erwarten ist. Was es dabei zu beachten gilt, war Thema einer Fachtagung. Sibylle Wehner-von Segesser Darf ein Arzt seinen Patienten Scheinbehandlungen (Placebos) in der Hoffnung anbieten, mit ihnen eine Wirkung zu erzielen? Erstaunlich viele Ärzte räumen ein, in bestimmten Situationen "etwa wenn eine wirksame Behandlung für das Leiden des Patienten fehlt " auf solche Massnahmen zurückzugreifen. Wie kürzlich eine Umfrage bei 167 Haus- und Kinderärzten im Kanton Zürich ergeben hat, empfehlen 72 Prozent der Befragten ihren Patienten zumindest gelegentlich Behandlungen, von denen nach wissenschaftlichen Kriterien keine Wirkung zu erwarten ist. Reine Placebos sind selten Allerdings kommen dabei Placebos im engeren Sinne wie Tabletten ohne Wirkstoff oder die Injektion einer Salzlösung nur selten zum Einsatz. Viel häufiger verwenden Ärzte sogenannte unreine Placebos: Arzneien, die zwar aktive Substanzen enthalten, aber beim vorliegenden Leiden keine pharmakologische Wirkung versprechen. Dabei handelt es sich zum Beispiel um Vitamine oder leichte Beruhigungs- und Schmerzmittel. Je nach Situation können auch diagnostische Massnahmen, Physiotherapien oder eine Akupunktur die Rolle unreiner Placebos übernehmen. Doch obwohl auch in anderen Ländern Behandlungen ohne wissenschaftlich erwiesene Wirkung in der ärztlichen Praxis weit verbreitet sind, werfen sie heikle Fragen auf. Sind sie überhaupt legitim? Wie steht es um die Pflicht des Arztes, seine Patienten ehrlich zu informieren? Bei welchen Leiden versprechen sie am ehesten Erfolg? Solche Fragen beschäftigen Ärzte und Ethiker seit Jahren. Kürzlich wurden sie auch an einer Tagung der Schweizerischen Akademie für Medizinische Wissenschaften in Zürich zur Diskussion gestellt. Sofern gewisse Regeln eingehalten werden, hält der Philosoph und Bioethiker Franklin Miller von den amerikanischen National Institutes of Health den Einsatz von Placebos nicht grundsätzlich für unprofessionell. Einerseits sei klar, dass Patienten auch bei einer Placebobehandlung Anrecht auf eine offene Information hätten; andererseits gelte es aber zu bedenken, dass eine Placebowirkung von der Erwartungshaltung des Patienten abhänge, die durch die offene Deklaration zunichtegemacht werden könnte. Dieses Dilemma lösen viele Ärzte, indem sie ihren Patienten ? wahrheitsgemäss, aber unter Umgehung des Wortes Placebo ? erklären, die empfohlene Behandlung sei zwar keine Standardtherapie für ihr Leiden, könne erfahrungsgemäss im betreffenden Fall aber trotzdem helfen. Zusätzlich steigern lässt sich die Chance für eine Placebowirkung durch ehrliche Anteilnahme sowie vertrauensbildende Signale und Rituale: vom Auftritt des Arztes im weissen Kittel bis hin zur Zelebrierung einer diagnostischen oder therapeutischen Massnahme. Zu jeder Behandlung ? so der Basler Internist Andreas Zeller ? gehöre eben auch ein wenig Pharma-Magie. Viele Ärzte seien sich der allgegenwärtigen Rolle von Placeboeffekten zu wenig bewusst. In der Tat erzielen oft auch «echte» Medikamente und Behandlungen einen wesentlichen Teil ihrer Wirkung durch Placeboeffekte. Als Beispiel kann eine 2003 publizierte Studie italienischer Wissenschafter dienen, in der den Patienten nach einer Operation via Infusion Morphin verabreicht wurde. Geschah das ohne Wissen der Patienten, waren für eine effektive Schmerzlinderung wesentlich höhere Dosen erforderlich, als wenn man den Patienten die Morphingabe zuvor angekündigt hatte. Generell steht heute ausser Zweifel, dass subjektive Erwartungshaltungen im Gehirn messbare physiologische Veränderungen auslösen. Bildgebende Verfahren zeigen, dass Scheinbehandlungen gegen Schmerzen, depressive und Angstzustände hirnphysiologisch zu ähnlichen Veränderungen führen wie echte Medikamente. Selbst die durch einen Mangel an Dopamin in bestimmten Hirnregionen verursachten Bewegungsstörungen von Parkinsonpatienten lassen sich mit Hilfe von Placebos bessern. Dabei kam es in den betreffenden Hirnarealen auch zu einem Anstieg der Dopamin-Aktivität. Interessanterweise spielt der Neurobotenstoff Dopamin auch im Belohnungssystem des Gehirns, in dem Erwartungshaltungen verschlüsselt werden, eine zentrale Rolle. Patienten offener als Ärzte Verständlicherweise verspüren Ärzte beim Einsatz von Behandlungen, deren spezifische Wirkung für das vorliegende Leiden nicht nachgewiesen ist, oft ein gewisses Unbehagen. Sie scheinen dabei aber die Bereitschaft ihrer Patienten zu unterschätzen, sich auf solche Behandlungen einzulassen. In einer noch unveröffentlichten Studie, in der 237 Patienten und 415 Hausärzte im Kanton Zürich nach ihrer Einstellung befragt wurden, zeigten sich nämlich die Patienten gegenüber einer «unspezifischen» (sprich: Placebo-)Behandlung deutlich aufgeschlossener als die befragten Ärzte. Wie Markus Gnädinger vom Institut für Hausarztmedizin der Universität Zürich, Mitglied der Studiengruppe, allerdings betonte, möchte die Mehrheit der Patienten über die Behandlung auch angemessen informiert werden. Anders als in der ärztlichen Praxis ist der Placeboeffekt bei der klinischen Prüfung neuer Pharmawirkstoffe oft ein Ärgernis; denn in Zulassungsstudien muss die zu prüfende Substanz signifikant besser abschneiden als ein Scheinmedikament (oder ein eventuell bereits verfügbares spezifisches Medikament). Doch vor allem bei Schmerzmitteln und Psychopharmaka, bei denen der Placeboeffekt besonders stark ausfällt, ist dieser Nachweis oft schwer zu erbringen. Lösen liesse sich das Problem vielleicht dadurch, dass neben der Placebo-Vergleichsgruppe routinemässig noch eine weitere Patientengruppe einbezogen wird, die auf der «Warteliste» steht, also überhaupt keine Behandlung erhält. Doch auch in der Wartelisten-Gruppe lässt sich der Placeboeffekt nicht ganz wegzaubern; haben doch die Erfahrungen mit Studien dieser Art gezeigt, dass allein schon die Hoffnung auf eine Behandlung die Symptome der Patienten lindern kann. Dieses «Prinzip Hoffnung», das man in klinischen Studien zu minimieren trachtet, lässt sich im ärztlichen Alltag vielfältig nutzen. Doch ist es nicht allmächtig. Ernsthafte organische Krankheiten können Placebos nach bisherigen Erfahrungen nicht heilen. Doch bei Schmerzen und Befindlichkeitsstörungen wie Ängstlichkeit oder depressiven Verstimmungen wirken sie oft Wunder. Letztes Jahr hat zum Beispiel eine Studie an Reizdarmpatienten gezeigt, dass eine Schein-Akupunktur die Schmerzen bei fast zwei Dritteln der Patienten weitgehend zum Verschwinden brachte, sofern diese Placebobehandlung unter intensiver ärztlicher Zuwendung erfolgte. War der behandelnde Arzt nur schon freundlich, wirkte sie immerhin bei 44 Prozent der Behandelten. In diesem Sinne befürworteten die Experten in Zürich den Placebo-Einsatz von Mitteln ohne evidenzbasierte Wirkung, aber mit möglichst geringem Schadenpotenzial ? zum Beispiel den Einsatz homöopathischer Globuli, pflanzlicher Präparate oder der bei Rheumapatienten beliebten Substanz Glucosamin. Alle diese Mittel wirken am besten, wenn nicht nur der Patient, sondern auch der Therapeut an ihren Effekt glaubt. Als unprofessionell wurde dagegen der weitverbreitete Einsatz von Antibiotika bei viralen Infektionen gegeisselt. Auch wenn damit eine Placebowirkung erzielt werden könne, sei hier das Risiko von Resistenzbildung und Nebenwirkungen zu gross. Ganz allgemein scheint die Arzt-Patient-Interaktion für eine Placebowirkung ebenso wichtig zu sein wie die jeweilige Massnahme selbst. Das mehrheitlich aus Ärzten bestehende Publikum der Zürcher Tagung wurde jedenfalls dazu ermuntert, die «Droge» Arzt keinesfalls zu unterschätzen. «Ich verschreibe keine Placebos, ich bin ein Placebo», erklärte denn auch der bekannte St. Galler Internist Etzel Gysling. Quelle: http://www.nzz.ch/nachrichten/hintergrund/wissenschaft/die_heilende_kraft_der_hoffnung_1.4092532.html




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